Die Böden sind leer – ohne Zusatzstoffe geht es nicht mehr

Allmählich entdeckt der Medizinbetrieb alte Erkenntnisse neu: Der Mensch erkrankt nicht, weil ihm Medikamente fehlen, sondern weil er sich falsch ernährt und bewegt. Allerdings reicht ein gesünderer Lebensstil allein oft nicht mehr. Wir müssen genau hinsehen und gezielt nachhelfen.

Es begann 1929 im Lötschental. Zehn Jahre später hatte der Zahnarzt Weston A. Price die Nahrungsgewohnheiten und die Zahngesundheit von 12 Völkern (darunter Eskimos, Maori, Indianer und afrikanische Stämme) untersucht, die noch unter vorindustriellen Bedingungen lebten. Er wollte herausfinden, warum junge Patienten in den USA so schlechte Zähne hatten. Zu diesem Zweck sammelte er Nahrungsproben und liess sie im Labor auf die fettlöslichen Vitamine A, E, D und K sowie auf die Mineralstoffe Kalzium, Eisen, Magnesium, Phosphor, Kupfer und Iod untersuchen. Im Lötschental konsumierten Erwachsene trotz harter Arbeit und kalten Temperaturen im Schnitt bloss 2 000 Kalorien, doch ihre Nahrung enthielt zwischen 3,7 und 2,2 mal mehr Mineralstoffe und bis zu zehn mal mehr Vitamine als die durchschnittliche US-Diät von damals. Dieses Muster wiederholte sich trotz sehr unterschiedlicher Nahrungszusammensetzung bei allen elf Völkern: Karge Kost mit sehr viel Vitaminen und Mineralstoffen, viel Bewegung, frische Luft und robuste Gesundheit.

Dieser Trend hat sich seither eher noch verschärft. So zeigen Messungen von 1985 und 2002 in Deutschland bei acht gängigen Lebensmitteln (Äpfel, Bananen, Möhren, Kartoffeln etc.) Rückgänge bei den Vitaminen C, Folsäure und B6 sowie den Mineralstoffen Magnesium, Kalium und Calcium von 12 bis 85%.

Der Mineralstoffgehalt der Nahrung schrumpft
Was Weston A. Price vor mittlerweile 80 Jahren mit den Methoden von damals entdeckt hat, wird heute von der modernen funktionellen Lebensstil-Medizin (auch Regulations- und Moderne Orthomolekulare Medizin genannt) erfolgreich umgesetzt: Man kann fast alle chronischen Krankheiten mit einer vitamin- und mineralstoffreichen Ernährung verhindern oder gar heilen. Die Ergebnisse sind noch besser, wenn man auch die weichen Faktoren wie Bewegung, frische Luft und soziale Einbindung berücksichtigt. Doch bevor wir das vertiefen, müssen wir noch die Ausgangslage klären: Zu Zeiten von Weston A. Price waren die Böden noch gesund und die Nahrungsmittel entsprechend reich an Vitalstoffen. Doch schon in den 1980er-Jahren zeitigte eine Untersuchung von je 20 Früchten und Gemüsen in England einen Rückgang des Mineralstoffgehalts um 6% (Phosphor) bis 81% (Kupfer) bei den Gemüsen und bis zu 32% (Eisen) bei den Früchten. Bei den Möhren etwa halbierte sich der durchschnittliche Gehalt. Als wichtigsten Grund nennt die Studie den massiven Einsatz von Kunstdünger auf der Grundlage von Stickstoff, Phosphor und Kalium. Daran ist nebst den ausgelaugten Böden auch der steigende CO2-Gehalt der Luft verantwortlich. Er bewirkt, dass namentlich der Gehalt an Proteinen und B-Vitaminen zurückgeht.

Wie 144 Fussballprofis ihre Batterien aufladen
Eine gesunde Ernährung allein genügt deshalb heute in der Regel nicht mehr. Das zeigt etwa eine Studie des Sportmediziners Professor Dr. Elmar Wienecke. Er hat 144 deutsche Fussballprofis zwei Saisons lang untersucht. In der ersten haben sie sich nach allen Regeln der sportärztlichen Kunst ernährt. In der nächsten Saison nahmen sie zudem eine auf sie zugeschnittene Mischung von rund 40 Mikronährstoffen und 17 Aminosäuren im Umfang von etwa 30 bis 70 Gramm täglich ein. Ergebnis: Während der ersten Saison haben die im Blut gemessenen Konzentrationen aller Mikronährstoffe um 10 bis 70% ab-, in der zweiten hingegen um 24 bis 170% zugenommen. Dasselbe Bild zeigte sich bei den elf Aminosäuren – Rückgang um mindestens 15% ohne, deutliche Zunahmen mit Supplementierung. Dank dieser hat sich der Stressindex (gemessen an der Variabilität der Herzfrequenz) halbiert. Eine analoge Untersuchung bei 156 Marathonläufern brachte in etwa dasselbe Ergebnis.

Wienecke schliesst daraus zweierlei: «Erstens zeigen die abnehmenden Werte, dass die zugeführten Nährstoffe eine wichtige Rolle bei der Bewältigung von psychischem und physischem Stress spielen. Zweitens deuten die steigenden Werte, dass wir auch mit gesunder Ernährung mit praktisch allen Vitalstoffen unterversorgt sind.» Deshalb sind Monopräparate die falsche Lösung. Es braucht den ganzen Cocktail.

Auch die Psyche braucht Mineralstoffe und Vitamine
Diese Investition in die Gesundheit ist allerdings nicht ganz gratis. Rund 4 Franken täglich für die Supplemente, rund 500 Franken pro Kopf für die Messungen. Bei Profisportlern zahlt sich das aus, ebenso bei Patienten, die dadurch z. B. Medikamente reduzieren oder absetzen können. Dr. med. Padia Rasch (leitende Fachärztin für Allgemeinmedizin und Naturheilverfahren im Fachkurhaus Seeblick in Berlingen) schildert einen typischen Fall: Frau S. D., 54, leidet unter Übergewicht, Diabetes und seit Monaten an einer schweren Erschöpfungsdepression. Sie nimmt zwei Psychopharmaka und zwei Schlafmittel (ca. 5 Franken täglich) ein, ist krankgeschrieben und soll in eine stationäre Psychotherapie überwiesen werden. Im März 2017 wird sie für zwei Wochen im «Seeblick» aufgenommen. Es folgt das bekannte Programm: Lebensumstände und Ernährungsgewohnheiten abklären, Labor, Darmsanierung, Entgiftung. Ab April nimmt sie eine individuelle Nährstoffmischung ein – Kostenpunkt 4.50 Fr./Tag. Im Juli sind die Medikamente abgesetzt, die Schlafstörungen und die chronische Müdigkeit sind weg. Im August 2018 sind unter anderem auch die Gelenkschmerzen, die Blähungen und die Blasenentzündung überwunden, Gewicht und Blutzuckerwerte sind wieder im Normalbereich. Die Patientin ist zwar noch nicht ganz gesund, kann aber wieder arbeiten und fühlt sich «sehr viel besser als zuvor».

Eine Frage der Kosten
Doch wie sieht das nun für den – relativ – gesunden Normalbürger aus? In der Schweiz gibt die ärmere Hälfte der Haushalte pro Kopf und Tag rund 8 Franken für Nahrungsmittel aus. In Deutschland sehen die Hartz-4-Ansätze 4,75 Euro vor. Dient es da wirklich der Volksgesundheit, wenn man den Leuten sagt, sie sollen zusätzlich noch ein paar Franken täglich für Ergänzungsmittel ausgeben – plus ein paar Hundert Franken für die Diagnostik? Reicht es nicht, einfach gesund zu leben? «Einverstanden», meint Frau Rasch, «ein gesunder Lebensstil mit viel Gemüse, Obst und Bewegung und Entspannung ist die Grundlage.» Allein damit könne man die Gesundheit deutlich verbessern, vor allem, wenn man mit reichlich Kräutern, Gewürzen, Beeren, Grüntee und ab und zu Bio-Leber den Nährstoffpegel hoch halte. Mit Linsen und Kirchererbsenmehl (beim Inder) könne man Defiziten bei den Aminosäuren entgegenwirken.

Warum das so wichtig ist, erklärt Bodo Kuklinski, Leiter des Diagnostik- und Therapiezentrums für Umweltmedizin in Rostock, so:

«Der Mensch erkrankt nicht, weil ihm Medikamente fehlen, sondern weil biochemische Ungleichgewichte nicht rechtzeitig erkannt und behoben werden.» Konkret heisst das: Solange man gesund ist, reicht es, sich mit einer nährstoffreichen Kost und allenfalls mit einem standardisierten Nahrungsergänzungsmittel möglichst viel von dem zuzuführen, was der Körper braucht, um seine Biochemie im Gleichgewicht zu halten.

Sobald man sich aber krank fühlt, dieses Gleichgewicht also gestört ist, lohnt es sich, genau zu messen, welche Nährstoffe fehlen und die Supplemente genau nach Bedarf zu dosieren. Versucht man hingegen bloss nach Gutdünken, mit einzelnen Substanzen wie Vitamin D, Magnesium etc. nachzuhelfen, riskiert man, das Gleichgewicht noch mehr zu stören. In jedem Fall besser ist ein – möglichst individuelles – Mikronährstoffprodukt mit mehr als 30 Vitaminen und Mineralstoffen.

Medikamente absetzen nicht ohne ärztlichen Rat
Ein gestörtes Gleichgewicht ist aber auch immer ein starker Hinweis auf Fehler im Lebensstil – zu wenig Bewegung , hastiges Essen. Allerdings ist es nicht leicht, alte Gewohnheiten abzulegen, zumal die Erfolge sich oft erst langsam einstellen. Mit einer gezielten Supplementierung und einer ärztlichen Begleitung kann man die Erfolgschancen in der Regel deutlich erhöhen. Dabei hilft auch, dass die Fortschritte gemessen werden können, bevor sie spürbar werden. Das gilt erst recht für Menschen, die Medikamente – insbesondere Psychopharmaka – nehmen. Sie müssen genau abklären lassen, welche Nährstoffe und allenfalls Hormone fehlen und sie brauchen ärztliche Unterstützung, wenn es darum geht, die Medikamente abzusetzen. Dazu Padia Rasch: «Ich habe noch keinen Fall erlebt, in dem eine Supplementierung die Heilung nicht zumindest beschleunigt hat. Das gilt für alle Krankheiten, auch für die rein psychischen.»

Brauchen wir wirklich Multipräparate?

Schaut man im Internet nach, findet man Dutzende Einträge und Studien, wonach Multivitamin- und Mineralstoffpräparate nutzlos seien. Wie kann das sein? Es wäre doch zu erwarten, dass wir umso gesünder sind, je besser wir uns mit Vitaminen und Mineralstoffen versorgen?

Nun erstens handelt es sich dabei fast immer um Metastudien, also die Auswertung einer grösseren Zahl von Beobachtungsstudien. Dabei werden meistens Studien mit Mono- und Multipräparaten in einen Topf geworfen, wodurch die tendenziell positive Wirkung der Multipräparate durch die weniger guten Ergebnisse der Einzelpräparate aufgewogen werden. Kommt dazu, dass die Unterschiede innerhalb der untersuchen Personengruppen von Anfang an so gross sind, dass es rein mathematisch fast unmöglich ist, signifikante Unterschiede etwa in Bezug auf Herzinfarkte, Krebs etc. festzustellen.

Zweitens: Alle Vitamine und Mineralstoffe werden für die Synthese von Dutzenden von Enzymen gebraucht. Wie eine brandneue Studie zeigt, sind einige dieser Enzyme für das kurzfristige, andere für das langfristige Überleben wichtig. Ein Triage-System sorgt nun dafür, dass bei einem Mangel etwa an Vitamin K2 die «kurzfristigen» (für die Blutgerinnung) Enzyme weiter bedient werden, während z. B. die bloss längerfristig wichtige Knochenbildung vernachlässigt wird. Das erklärt auch, warum längerfristige Schäden in diesen meist auf wenige Jahre oder gar nur Monate ausgelegten Studien kaum entdeckt werden können.

Ein weiteres Problem dieser Studien liegt darin, dass in der Regel die Einzelwerte, also z. B. B12, D3 oder Magnesium, Kalium usw. bloss im Blut (Serum) gemessen werden. Das sagt aber nichts darüber aus, wie die Substanzen im Stoffwechsel eingesetzt, gebraucht und umgesetzt werden. Dazu braucht es funktionale Messungen, z. B. Homocystein, GPx, SOD, CRPus, HBA1c, Pyridinium Crosslinks, Energiestoffwechsel, Mitochondrienaktivität, Herzratenvariabilität, Neurotransmitter. Auch Veränderungen der Knochendichte, der Haare, Fingernägel u.s.w. können verlässliche Informationen über den Bedarf, die Wirkung und die individuelle Verarbeitung im Stoffwechsel (biochemische Prozesse) liefern.

Fazit: Multipräparate wirken sehr wohl, vor allem, wenn sie gezielt eingesetzt werden. Beobachtungsstudien eignen sich aber nicht dazu, diese Wirkung zu messen.

*Werner Vontobel wurde als Wirtschaftsjournalist schnell einmal zum kritischen Beobachter der Pharma-Industrie. Seit bald zehn Jahren schreibt er deshalb in der Blick-Gruppe Texte zur Frage, wie man auch ohne Pharmaindustrie gesund bleibt. Auslöser für seinen Beitrag in „Meine Gesundheit“ war seine Teilnahme am Tagesseminar „Energie auf Rezept“ der SfGU.

Text: Werner Vontobel* Bilder: AdobeStock

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