Gehirn im digitalen Stress

Im digitalen Zeitalter ist das Gehirn mehr denn je gefordert – sowohl durch das Überangebot und die permanente Verfügbarkeit von Informationen, als auch durch unsichtbare Stressoren. So zeigen mehrere Studien der Universität Mainz, wie stark elektromagnetische Strahlung durch Mobilfunk dieses Organ in Stress versetzen kann. Wissenschaftler und Mediziner plädieren dafür, das Gehirn vor dauerhafter Stressbelastung zu schützen und für ausreichend Regeneration zu sorgen.

Die Einflüsse der Digitalisierung auf das Gehirn rücken zunehmend in den Fokus der Aufmerksamkeit. Für den promovierten Psychologen, Wissenschaftler und Bestseller-Autor Dr. Leon Windscheid zeichnet sich ab, «dass die digitale Revolution mit unseren Hirnen sehr, sehr viel macht». In einem SWR2-Gespräch* weist er darauf hin, dass dieses Organ für den immer digitaler, schneller, komplexer und effizienter werdenden Alltag nicht konzipiert sei. So lautet sein eindringlicher Appell, sich mit dem Hirn auseinanderzusetzen: «Wenn wir uns nicht darum kümmern wie um unseren Rücken, dann hat es in unserer neuen Welt kaum eine Chance.» Dass viele Menschen sich überfordert fühlen, dass Burnout, Depression und Stress sich zu Volkskrankheiten entwickelt haben, zählt für Windscheid zu den Schattenseiten der rasch voranschreitenden Digitalisierung. Um das Abgleiten in einen Zustand tiefer emotionaler, körperlicher und psychischer Erschöpfung zu vermeiden, richtet auch Dr. med. Engelbert Hillebrand (Chefarzt Klinik Teufen für Psychosomatik) den Fokus u.a. auf die Regeneration des Gehirns: «Was heute bei den meisten Erwerbstätigen am stärksten gefordert ist, ist das Gehirn – nicht die Muskelkraft. Und dieses Organ ist als Träger rationaler und emotionaler Funktionen erschöpfbar.» Anstatt zu regenerieren, überforderten digitale Stressoren sowie das Überangebot und die permanente Verfügbarkeit von Informationen das Gehirn vielfach auch in der Freizeit. Wie Leon Windscheid erklärt, äussert sich dies beispielsweise im Umgang mit dem Smartphone. Ihm zufolge unterbrechen Nutzer mittlerweile alle 18 Minuten ihre laufende Tätigkeit, um über den Touchscreen zu wischen: «Vor 10 Jahren wäre das noch eine klassische Verhaltensstörung gewesen.» Dagegen sind die Stress-Risiken, die von den digitalen Mobilfunkgeräten auf das Gehirn ausgehen, auf den ersten Blick nicht zu erkennen.

«Starke allgemeine Stressaktivierung»
In welcher Intensität Smartphones das Gehirn bei Exposition durch elektromagnetische Strahlung in Stress versetzen können, zeigen die Ergebnisse mehrerer Studien, die im Auftrag der Stiftung für Gesundheit und Umwelt (SfGU) an der Universität Mainz durchgeführt wurden. Wie sich jeweils 15-minütige Telefonate mit dem iPhone 8 und iPhone X auf die Gehirnaktivität auswirken, war Gegenstand einer Untersuchung, bei der unter streng kontrollierten Laborbedingungen ein sog. «high-density Elektroenzephalogramm (EEG)» mit 128 Elektroden zum Einsatz kam. Die Resultate zeigen, dass der Schutz und die Regeneration des Gehirns im digitalen Zeitalter von besonderer Bedeutung sind: «Diese beiden Smartphone-Modelle von Apple erzeugen bereits nach 10-minütigen Telefonaten eine sehr starke allgemeine Stressaktivierung in den temporalen Arealen des Gehirns, die direkt hinter dem Ohr liegen. Ohne wirksamen Schutz braucht das Gehirn eine mehrstündige Erholungsphase, bis es wieder im normalen Modus funktioniert», erklärt die Kognitions- und Neurowissenschaftlerin Dr. Diana Henz.

Warentester kritisieren SAR-Wert
Nach Aussagen des Baubiologen und Umweltmesstechnikers Peter Beckmann handelt es sich dabei um Effekte, die vom offiziellen Grenzwert bei Mobilfunk allerdings weder erfasst, noch abgedeckt werden. Wie das deutsche Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) auf seiner Website schreibt, wird «der Schutz der Gesundheit der Nutzerinnen und Nutzer von mobilen Endgeräten im Rahmen der Produktsicherheit geregelt». Als Mass diene die Spezifische Absorptionsrate (SAR) – ein Wert, den das BfS seit 2002 bei den auf dem deutschen Markt verfügbaren Handys regelmässig erhebt und veröffentlicht. Er bringt zum Ausdruck, wie stark sich das naheliegende Gewebe durch die Handystrahlung erwärmt – je kleiner dieser Wert ist, desto geringer fallen diese thermischen Effekte aus. Während offizielle Aussagen zur Strahlungsbelastung von Smartphones stets an der SAR gemessen werden, mahnt die Stiftung Warentest zur Vorsicht. Im Rahmen eines Ende August 2019 veröffentlichten Faktenchecks attestierten die Verbraucherschützer diesem Wert eine nur geringe Aussagekraft. Peter Beckmann unterstreicht diese Aussage – insbesondere mit Blick auf die Studien zur Gabriel-Technologie, die in renommierten Fachjournalen wissenschaftlich publiziert worden sind. So fordert er, die Beurteilung von Strahlungsbelastung durch Mobilfunk nicht ausschliesslich auf der SAR abzustützen, sondern ergänzend dazu auch die nicht-thermische Effekte zu berücksichtigen: «Dieser Wert sagt z.B. nichts aus über mögliche Veränderungen der Frequenzaktivität des Gehirns von Smartphone-Nutzern, die bei Exposition durch elektromagnetische Strahlung mit dem EEG messbar ist.»

Einfluss auf Gehirnwellen und Stoffwechselprozesse
Dr. Diana Henz weist in diesem Zusammenhang aufgrund der derzeitigen wissenschaftlichen Studienlage (siehe Metaanalyse von Pall, 2016) auf einen möglichen Zusammenhang zu Symptomen der Depression und des Burnout hin. Beiden Erkrankungssymptomen liegen vergleichbare physiologische Mechanismen zugrunde: «Bei Depressions- und Burnout-Patienten ist die Gehirnaktivität in den Alpha-Frequenzbändern chronisch reduziert. Dieser Effekt kann sich durch elektromagnetische Felder verschlimmern», erklärt die Wissenschaftlerin. Darüber hinaus weist sie noch auf einen weiteren Aspekt hin, der Auswirkungen auf die Regenerationsfähigkeit vermuten lässt: Ihr zufolge konnten neurophysiologische Studien zeigen, dass Mobilfunkexposition einen Einfluss auf die Stoffwechselprozesse des Gehirns haben kann. Wie im Sport, so sei auch bei einem dauerhaften Leistungszustand des Gehirns mit einer Dysbalance bei der Versorgung mit Mikronährstoffen zu rechnen. Um auf diesem Gebiet weiterführende Aussagen treffen zu können, hält sie vor allem Langzeitstudien für erforderlich.

* «Wissenschaft zum Anfassen mit dem Psychologen Dr. Leon Windscheid», veröffentlicht am 29. März 2019 unter www.swr.de

Text: Jürgen Kupferschmid
Bilder: AdobeStock

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