Ein Appell für die Zukunft: „Nehmt endlich Rücksicht auf unsere Kinder und Jugendlichen!“

Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) in Deutschland schlägt Alarm: Mit den einschränkenden Corona-Massnahmen steigt bei vielen Kindern und Jugendlichen das Risiko, im Erwachsenenalter selbst zu Risikogruppen zu zählen. Eine Offensive für Prävention und Gesundheitsförderung sowie eine Politik mit dem Blick fürs Ganze sind dringend nötig. Im Interview mit SALUSMED erläutert Dr. med. Thomas Fischbach* warum.

Herr Dr. Fischbach, mit dem Lockdown hat die Bundesregierung drastische Massnahmen ergriffen, um die Ausbreitung des Coronavirus auszubremsen. Unter den besonderen Schutz der Politik wurden damit in erster Linie ältere Personen gestellt sowie Raucher und Menschen mit vermeidbaren Zivilisationserkrankungen. Welchen Stellenwert spielt dabei die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen – die Zukunft unserer Gesellschaft?
Dr. med. Thomas Fischbach: Zu Beginn des Lockdowns war vom Wohl der Jüngsten in unserer Gesellschaft überhaupt nicht die Rede. Die Heranwachsenden fanden schlichtweg nicht statt. Das muss man sich mal vorstellen: Die Kitas und Schulen wurden praktisch von heute auf morgen ganz geschlossen. Gleichzeitig gingen immer mehr Eltern in Kurzarbeit oder verloren im schlimmsten Fall sogar ihren Job. Machen Sie mal Home-Office mit zwei lärmenden Kleinkindern im Rücken! Und zur Krönung bekommen die Eltern von der Politik dann auch noch klipp und klar gesagt, sie mögen das bitte selbst regeln. Wenn Sie dann z.B. im 4. Stock eines Mehrfamilienhauses mit X Parteien wohnen, in einer kleinen Wohnung ohne Balkon, dann können Sie mit ihren Kindern fast nirgendwo mehr hin. Selbst die Spielplätze waren bis vor Kurzem gesperrt. Und von Oma und Opa dürfen die Kleinen auch nicht mehr betreut werden. Vor diesem Hintergrund tue ich mir sehr schwer damit, die Corona-Massnahmen als verhältnismässig einzustufen. Wir Kinder- und Jugendärzte fordern mit Nachdruck von der Politik, bei der Bewältigung der Corona-Krise und ihrer Folgen endlich mehr Rücksicht auf Kinder und Jugendliche zu nehmen! Wenn man das ernsthaft will, dann muss man neben Virologen, Epidemiologen und Ökonomen auch Sozialwissenschaftler, Pädagogen sowie Kinder- und Jugendärzte in die Entscheidungsprozesse einbinden.

Welche Rolle die Kinder in der Verbreitung des Coronavirus spielen, ist unter Fachleuten sowie in den Medien nach wie vor umstritten. Wie beurteilen Sie das?
Dr. med. Thomas Fischbach:
Die Rolle der Kinder in der Corona-Epidemie ist bis heute tatsächlich überhaupt nicht klar. Es gibt nach wie vor keinen wissenschaftlich fundierten Hinweis darauf, dass sie tatsächlich die Haupt-Spreader sind, wie das z.B. bei der Influenza der Fall ist. Dazu sind entsprechende Studien zwingend nötig. Auch die jetzt von einem Team um Professor Christian Drosten von der Berliner Charité vorgelegte Studie hat das Reviewverfahren noch nicht hinter sich. Sie wurde an einer sehr kleinen Zahl von Kindern durchgeführt und sieht sie als ebenso häufig wie Erwachsene infiziert. Da hätte man mal mit der Veröffentlichung besser gewartet. Richtig ist hingegen, dass wir mehr und vor allem belastbare Daten benötigen. Warum das nur im Schneckentempo erfolgt, ist mir nicht klar. Bei der Schliessung von Kindertageseinrichtungen und Schulen war man hingegen sehr schnell unterwegs. Ich wundere mich schon darüber, dass zur Rolle der Kinder noch immer keine eindeutigen Ergebnisse vorliegen. Dabei könnten wir schon längst Bescheid wissen, hätte man im Rahmen von Cluster-Studien frühzeitig Abstriche von grösseren Gruppen genommen. Bislang wurde das aber leider nicht systematisch gemacht. Stattdessen werden jetzt in Deutschland Bundesliga-Klubs flächendeckend auf das Coronavirus getestet.

Die Corona-Massnahmen stellen eine enorme Belastung dar – insbesondere für Kinder und Jugendliche sowie deren berufstätige Eltern. Welche Stimmung kommt nach wochenlangen Restriktionen bei Ihnen in der Praxis in Solingen in Nordrhein-Westfalen an?
Dr. med. Thomas Fischbach:
Irgendwann wird die Stimmung in der Bevölkerung kippen, wenn Entscheidungen als nicht plausibel begründet und willkürlich wahrgenommen werden. Es ist doch absurd und nicht vermittelbar, wenn in Deutschland jeder Landes- und Lokalfürst seine eigenen Corona-Entscheidungen trifft, die sich oftmals widersprechen. Bei jedem Einzelnen findet doch täglich aufs Neue ein ganz persönlicher Abwägungsprozess statt. Was wird unter den gegebenen Umständen nun für das grössere Risiko oder die grössere Zumutung gehalten? Und diese Auseinandersetzung betrifft mitnichten nur Familien, die in sozial schwierigen Verhältnissen leben. Selbst reflektierte Eltern, die der gesellschaftlichen Mitte zuzuordnen sind, sagen mir unterdessen sehr deutlich: „Lange halten wir das nicht mehr durch!“ Es muss bald eine Hoffnungslinie geben. Man hätte den Menschen in Deutschland jetzt doch immerhin mal sagen können: „Ihr müsst noch X Tage oder Wochen durchhalten.“ Aber diese Aussage kriegen Sie ja nicht – selbst bei einem Rückgang der Fallzahlen. Stattdessen wird die Kontaktsperre verlängert und nochmals verlängert und nochmals verlängert.

Wie ist die Lage unter den Kindern und Jugendlichen?
Dr. med. Thomas Fischbach:
Die Kinder rebellieren und insbesondere Jugendliche sind zunehmend frustriert, weil sie ihre Freunde nicht mehr treffen dürfen. Die Gewalt nimmt in vielen Familien zu und bei der Kinderschutzhotline gehen die Anfragen durch die Decke. Irgendwann muss man sich deshalb ja auch mal die Frage stellen: Wo soll das alles noch hinführen? Selbst wenn die akute Corona-Krise dann eines Tages überstanden ist, stehen viele vor einem existenziellen Scherbenhaufen. Wenn die Leute ihren Arbeitsplatz verlieren, dann macht das die Menschen nicht unbedingt gesund. All das sind Aspekte, die Politiker in ihrer Entscheidungsfindung allmählich berücksichtigen sollten. Zumindest bislang hat das aber nicht ausreichend stattgefunden.

Was bedeutet das für die Förderung ihrer Gesundheit?
Dr. med. Thomas Fischbach:
All das, was wir in der Zeit vor Corona für die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen noch für sehr wichtig gehalten haben, scheint jetzt plötzlich überhaupt keine Rolle mehr zu spielen. Ein Grossteil der Massnahmen für die Allgemeingesundheit sind jetzt faktisch ausser Kraft gesetzt. Viele gesundheitsfördernde Angebote sind durch den Lockdown komplett weggefallen. Die Heranwachsenden gehen nicht mehr in die Schule, sie treiben keinen Schulsport mehr, sie nehmen nicht mehr am Geschehen in den Sportvereinen teil und können auch keine Freunde mehr treffen, um z.B. draussen Fussball, Basketball oder etwas Vergleichbares zu spielen. In der Konsequenz hat das zwangsläufig zu einer vermehrten Nutzung virtueller Kontaktmöglichkeiten geführt: Smartphone, Computer und Spielekonsolen. Besonders benachteiligt sind Kinder und Jugendliche mit Behinderungen und besonderem Förderbedarf. Deren Hilfemassnahmen finden schlichtweg nicht mehr statt und die Jugendämter arbeiten im Home-Office. So kann man doch nicht mit der Würde dieser jungen Menschen umgehen!

Inwiefern legt die Politik durch die kurzfristig wirkenden Corona-Massnahmen den Grundstein für die Risikogruppen der Zukunft – Stichwort Zivilisationserkrankungen?
Dr. med. Thomas Fischbach:
Was machen die Kinder und Jugendlichen denn den lieben langen Tag, ausser digitale Medien im Übermass zu konsumieren? Je länger diese Ausnahmesituation andauert, desto mehr von ihnen laufen Gefahr, in den Teufelskreislauf von Fehlernährung und Bewegungsmangel zu geraten. Ernähren sich Kinder und Jugendliche vorwiegend von Fastfood und Süssgetränken, dann werden sie bis auf wenige Ausnahmen früher oder später übergewichtig oder adipös. Dass dies eine häufige Ursache für viele Zivilisationskrankheiten ist, müssen wir nun wirklich nicht mehr beweisen – das ist wissenschaftlich eindeutig belegt. Es gibt z.B. Studien, die zeigen, dass eine Fettleber bereits in der Kindheit sowie eine diabetische Stoffwechsellage oder Bluthochdruck schon in der Jugend feststellbar sind. Solche funktionellen Störungen waren bei diesen Altersgruppen früher praktisch kein Thema. Mit Blick auf COVID-19 hat das Robert Koch Institut zu einem sehr frühen Zeitpunkt darüber informiert, dass z.B. Bluthochdruck oder starkes Übergewicht Risikofaktoren für schwere Krankheitsverläufe sind. Dies geht wiederum mit sich beschleunigenden biologischen Alterungsprozessen einher – insgesamt also ganz verheerende Signale für die Zukunft junger Menschen.

Was ist zu tun, um wieder eine positive Perspektive für die Zukunft entwickeln zu können?
Dr. med. Thomas Fischbach:
Wir müssen schnellstmöglich wieder dort anknüpfen, wo wir vor Corona aufgehört haben: Es braucht eine gross angelegte Präventionsoffensive, die Übergewicht und Volkskrankheiten wie koronare Herzerkrankungen, Bluthochdruck oder Diabetes mellitus so entschlossen in den Fokus rücken, wie wir das bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie erlebt haben. Auf der Verhaltensebene gehören da Mediensucht und Bewegungsmangel ebenfalls dazu. Diese Herausforderung können wir nur ganzheitlich meistern, d.h. durch die konstruktive Zusammenarbeit von möglichst allen Verantwortlichen. Dazu zählen neben den Eltern selbstverständlich die Medizin, Kindergärten, Schulen, Vereine und die Medien. Zwingend brauchen wir die Unterstützung der Politik, u.a. in Form von weitblickenden Entscheidungen. Da ist ein zu Coronazeiten beschlossenes Aussetzen der Präventionsleistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung nach § 20 SGB V sicher das falsche Signal. Corona hat uns gelehrt, dass wir stets das grosse Ganze im Blick haben müssen – also auch mögliche Kollateralschäden aufgrund drastischer Massnahmen, die über einen längeren Zeitraum andauern. Ein Teil der Kinder und Jugendlichen wird davon krank werden, psychisch und organisch. Sie werden wohl einen hohen gesundheitlichen Preis dafür zahlen müssen, dass die Ziele des Lockdowns erreicht werden können, falls dies überhaupt nachhaltig gelingen wird. Und dabei sind die mit einer schweren wirtschaftlichen Rezession verbundenen Schäden ihrer Aufwachsbedingungen und Entwicklungsmöglichkeiten nicht einmal eingerechnet.

Der BVKJ

Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e. V. (BVKJ) ist die berufliche Interessenvertretung der Kinder- und Jugendärzte in Deutschland. Rund 12.000 Kinder- und Jugendärzte aus Klinik, Praxis und öffentlichem Gesundheitsdienst gehören dem Verband an. Der BVKJ setzt sich für Chancengleichheit und die bestmögliche gesundheitliche Versorgung der Kinder und Jugendlichen in Deutschland ein und betreibt eine politische Kinder- und Jugendmedizin.

* Kinderarzt in Solingen und Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ)
Weitere Informationen: bvkj.de, kinderaerzte-im-netz.de

Text: Jürgen Kupferschmid Bilder: AdobeStock, Frank Schoepgens FOTOGRAFIE, Köln

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