Alles Vitamin D

Die von Frank C. Garland und Cedric F. Garland aus epidemiologischen Überlegungen aufgestellte Hypothese, dass Vitamin D das Risiko für Dickdarmkrebs reduzieren könnte1, hat eine Welle an wissenschaftlichem Interesse an Vitamin D jenseits von dessen klassischer Rolle in der Knochenentwicklung ausgelöst. Kaum ein anderer Mikronährstoff wurde mit solcher Intensität in allen möglichen Zusammenhängen und in allen möglichen Arten von Studien beforscht. Das schiere Ausmass der vorliegenden Literatur macht die Ableitung klarer Aussagen zu den gesundheitlichen Auswirkungen von Vitamin D und das Auffinden verlässlicher praktischer Empfehlungen für den Umgang mit Vitamin D schwierig und wird durch die oftmals vorzufindende Widersprüchlichkeit von Studienergebnissen und Richtlinien der verschiedenen Fachgesellschaften weiter verkompliziert. Nichtsdestotrotz lassen sich bei eingehender Analyse der vorliegenden Daten eindeutige Schlüsse mit hohem Evidenzgrad extrahieren:

  1. Das ursprünglich postulierte Potential von Vitamin D für die Vorbeugung von Krebs und vielen anderen Erkrankungen wurde weitestgehend widerlegt.
  2. Was sich hingegen in unabhängigen hochkarätigen Meta-Analysen von randomisiert kontrollierten Studien mit in Summe an die 100’000 Teilnehmern immer wieder zeigt, ist, dass eine Vitamin D3-Supplementierung Mortalität vorbeugen, in anderen Worten das Leben verlängern kann.2,3 Um ganz klar zu sein: Es handelt sich hier um Interventionsstudien, bei denen eine Gruppe Vitamin D3 und eine zweite vergleichbare Gruppe ein Placebo erhält. Am Ende der mehrjährigen Studiendauer ist die Gesamtmortalität in der Vitamin D3-Gruppe systematisch niedriger. Damit ist Kausalität bewiesen, was im Falle von Vitamin D übrigens auch noch durch eine ganz andere Art von Studien, den sogenannten Mendel’schen Assoziationsstudien, gesichert ist.
  3. Die in den oben erwähnten Meta-Analysen festgestellte positive Wirkung einer Vitamin D-
Supplementierung auf die Lebensdauer widerspiegelt wahrscheinlich nicht das gesamte Potential dieser Intervention, weil die Studienpopulationen relativ alt und die eingesetzten Vitamin D3-Dosierungen meistens relativ gering waren. Eine früh im Leben beginnende und ausreichend hoch dosierte Supplementierung würde den Effekt vermutlich weiter verstärken.
  4. Aus Assoziationsstudien wissen wir, dass 25-Hydroxyvitamin D-Blutspiegel über 75 nmol/L, besser über 100 nmol/L, für eine maximale Reduktion des Mortalitätsrisikos notwendig sind.4 Diese sind für die meisten Menschen nicht, und schon gar nicht durchgehend, ohne Supplementierung erreichbar.
  5. Vitamin D-Toxizität ist selten, aber regelmässig zu beobachten und resultiert praktisch immer aus massiver Überdosierung entweder auf Seiten des Anwenders oder des Supplement-Herstellers. Zur Kontrolle der optimalen Einstellung und Früherkennung eines eventuellen Toxizitätsrisikos erscheinen regelmässige Spiegelbestimmungen (25-Hydroxy-Vitamin D) empfehlenswert.

  6. Die Vitamin D-Richtlinie der Endocrine Society zeichnet sich durch ihre balancierte Bewertung der Evidenz und ihre praxistauglichen Empfehlungen aus.5

Assoc. Prof. Dr. Rodrig Marculescu
Allgemeines Krankenhaus der medizinischen Universität Wien

Literatur:

  1. Garland CF, Garland FC. Do sunlight and vitamin D reduce the likelihood of colon cancer? Int J Epidemiol. 1980;9(3):227-231. doi:10.1093/IJE/9.3.227
  2. Bjelakovic G, Gluud LL, Nikolova D, et al. Vitamin D supplementation for prevention of mortality in adults. Cochrane database Syst Rev. 2014;1:CD007470. doi:10.1002/14651858.CD007470.pub3
  3. Chowdhury R, Kunutsor S, Vitezova A, et al. Vitamin D and risk of cause specific death: systematic review and meta-analysis of observational cohort and randomised intervention studies. BMJ. 2014;348:g1903. doi:10.1136/bmj.g1903
  4. Garland CF, Kim JJ, Mohr SB, et al. Meta-analysis of all-cause mortality according to serum 25-hydroxyvitamin D. Am J Public Health. 2014;104(8):43-50. doi:10.2105/AJPH.2014.302034
  5. Holick MF, Binkley NC, Bischoff-Ferrari H a., et al. Evaluation, Treatment, and 
Prevention of Vitamin D Deficiency: an Endocrine Society Clinical Practice Guideline. J Clin Endocrinol Metab. 2011;25(July):1-20. doi:10.1210/jc.2011-0385

Kommentar aus Sicht der SfGU:
«Vitamin D ist eine hormonähnliche Substanz mit vielen Eigenschaften, die an den unterschiedlichsten Stoffwechselprozessen beteiligt ist. Zahlreiche Studien belegen seine Bedeutung. Aber auch hier macht die Dosis den entscheidenden Unterschied. Je nachdem, was genau erreicht werden soll, z.B. `Therapie´, `Auffüllen des Vitamin D-Spiegels´ oder `Erhaltung eines vorgegebenen Werts´, können die Dosierungen beträchtlich variieren. Zudem haben wir an eigenen Untersuchungen und Studien festgestellt, dass die Aufnahme und Verarbeitung von Vitamin D im Stoffwechsel sehr individuell sind, was somit auch berücksichtig werden muss. Deshalb gilt auch hier: Um Vitamin D wirksam und gezielt einsetzen zu können, brauchen wir vorab eine eindeutige Messung des Vitamin D-Spiegels im Blut sowie nach einiger Zeit eine entsprechende Kontrolle. Da die gemessenen Werte je nach Messverfahren und Labor unterschiedlich sein können, empfehlen wir bei Kontrollmessungen das gleiche Labor zu beauftragen. Aber auch hier gilt zwingend: Vitamin D sollte nicht als Monopräparat eingenommen werden! Das erhöht zwar den Vitamin D-Spiegel im Serum, die erwünschten biochemischen Abläufe können ohne die Aktivierung von Co-Faktoren durch alle essentiellen Mikronährstoffe aber nicht in Gang gesetzt werden. Erst eine ausgewogene Grundversorgung an Mikronährstoffen, Amino- und Fettsäuren garantiert auch biochemisch optimale Abläufe auf den unterschiedlichen Stoffwechselebenen. Es erstaunt uns immer wieder, dass diese `Binsenwahrheit´ in der Schulmedizin und von vielen Therapeuten noch immer nicht umgesetzt wird – zum Nachteil des Patienten.»

Andreas Hefel, Präsident der SfGU

Kernthese Nr. 7:
Es gibt umfassende und hochwertige wissenschaftliche Evidenz dafür, dass eine suffiziente Vitamin D-Versorgung das Leben verlängert.

Kernthese Nr. 8:
Eine suffiziente Vitamin D-Versorgung (25-Hydroxy-Vitamin D-Blutspiegel über 75 nmol/L, besser über 100 nmol/L) ist kaum ohne Supplementierung möglich. Als Richtlinie dafür werden die Empfehlungen von Michael F. Holick et al. vorgeschlagen.*

* In: „Evaluation, Treatment, and Prevention of Vitamin Deficiency: an Endocrine Society Clinical Practice Guideline“, The Journal of Clinical Endocrinology and Metabolism, June 2011 und zwar die hierin als „tolerable upper intake level, UL“ bezeichneten Dosierungen, Tabelle 3, letzte Spalte ganz rechts. Die gesamte Publikation ist über ResearchGate frei vefügbar:
https://www.researchgate.net/publication/51196545_Evaluation_Treatment_and_Prevention_of_
Vitamin_D_Deficiency_an_Endocrine_Society_Clinical_Practice_Guideline

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