«Mutig neue Wahrheiten schaffen»

Der 16. Internationale Bodenseekongress für Regulations- und Moderne Orthomolekulare Medizin stellte den Menschen als selbstregulierendes biologisches System in den Mittelpunkt. Um im Gleichgewicht und damit gesund zu sein, spielt die Energiebereitstellung in den Mitochondrien eine zentrale Rolle. Dies kam deutlich zum Ausdruck und markiert einen mehrfachen Paradigmenwechsel, z.B. im Umgang mit Depression sowie Alzheimer und Demenz.

„Veranstaltungen wie der Internationale Bodenseekongress verbreiten Hoffnung“ – mit diesem zuversichtlichen Statement eröffnete Dr. med. Kurt Mosetter (ZiT – Zentrum für interdisziplinäre Therapien) seinen Vortrag an dieser Fachtagung. Nach einem Jahr Pause lud die Stiftung für Gesundheit und Umwelt (SfGU) nunmehr zum 16. Mal dazu ein, „mehr über Gesundheit, statt über Krankheit“ zu diskutieren. Vor ausverkauftem Haus kamen die rund 200 Gäste im Konferenzzentrum Lilienberg dieser Aufforderung von Andreas Hefel, Präsident der SfGU, nach. Fünf Fachvorträge von hochkarätigen Referenten sowie drei Kurzpräsentationen von Masterarbeiten gaben dazu zahlreiche Impulse aus Wissenschaft und Praxis. Mehrheitlich Ärzte, Therapeuten, Apotheker und Drogisten stehen damit für kontinuierlichen Fortschritt der Regulations- und Modernen Orthomolekularen Medizin. Für Mosetter ist der Bodenseekongress deshalb ein Beispiel, das noch viel mehr Schule machen sollte: „Weiterentwicklung ist nur im transprofessionellen Miteinander möglich, wenn kompetente Leute sich menschlich begegnen, miteinander interagieren und ihr Wissen teilen. So lerne ich jeden Tag dazu.“ In Anbetracht der Herausforderungen könnte die Dringlichkeit kaum grösser sein, Erfahrungswissen entstehen zu lassen, aufzuklären und zu informieren. Prof. Dr. habil. Ulrich Amon (Internationales Hautarztzentrum DermAllegra) richtete in seinem Auftaktvortrag über Autoimmunerkrankungen den Fokus auf die nichtübertragbaren Krankheiten (NCD) – die „Pandemie der Neuzeit, die sich in allen Organsystemen abspielt“. In Europa sind Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, chronische Atemwegserkrankungen und psychische Störungen für ca. 86% der (vorzeitigen) Todesfälle und 77% der Gesundheitsausgaben verantwortlich. Dabei prognostizierte der Dermatologe für die kommenden Jahre eine „dramatische Zunahme von Patienten“, die auf unterschiedlichste Gründe zurückzuführen sei, „insbesondere aber auf eine sehr, sehr einseitige Strategie offizieller Stellen zur Bekämpfung eines Virus“. Stattdessen plädierte er für einen ganzheitlichen Blick: „Vielfach wird bei der Entstehung einer Erkrankung nach der Monokausalität gesucht, doch es ist ein ganzer Strauss von potenziellen Auslösern. Nachdem sich die Gene in den vergangenen 10’000 Jahren so gut wie nicht verändert haben, können wir davon ausgehen, dass es die Epigenetik ist – der Lebensstil, die Ernährung und Umweltfaktoren.“ Wie Mosetter, machte sich auch Amon für interdisziplinäre Zusammenarbeit stark: „Statt Krankheitsbilder in einzelne ,Silos’ zu packen – Gastro, Neuro, Endo, Derma, Rheuma und Augen – sollte mehr miteinander gesprochen werden.“

Dr. med. Kurt Mosetter
ZiT – Zentrum für interdisziplinäre Therapien, Konstanz

Prof. Dr. med. habil. Ulrich Amon
Internationales Hautarztzentrum DermAllegra

Mitochondriale Gesundheit
Miteinander wurde sehr viel gesprochen an diesem 16. Bodenseekongress – aus unterschiedlichen fachlichen Blickwinkeln, die gemeinsame Nenner sichtbar werden liessen. Im Mittelpunkt stand dabei immer wieder die Energiebereitstellung in den Mitochondrien, so zum Beispiel beim Vortrag von Ass. Prof. Dr. rer. nat. Alexander Karabatsiakis (Institut für Psychologie der Universität Innsbruck) über biomolekulare Konsequenzen von chronischem und traumatischem Stress. Eindringlich appellierte er an die Teilnehmenden, auf die mitochondriale Gesundheit zu achten – als Voraussetzung für ein langes, gesundes Leben. In diesem Sinne vollzog er einen Paradigmenwechsel im Umgang mit z.B. traumatischen Stressoren und Depression. Ihm zufolge ist Stress, d.h. auch psychischer Stress, als Notwendigkeit des Körpers zu verstehen, Energie zu verbrauchen. Dies veranschaulichte er am Begriff der Homöostase, die einen physiologischen Gleichgewichtszustand beschreibt: „Ist jemand gestresst, kommt er in eine allostatische Belastung, aus der der Körper das System wieder zurückführen muss. Und dafür braucht er Energie.“ In diesem Zusammenhang motivierte der Wissenschaftler auch darüber nachzudenken, inwiefern die Depression – eine mögliche Folge von Trauma – tatsächlich eine zentrale Erkrankung des Gehirns sei: „Möglicherweise kann die Depression eine bioenergetische Stoffwechselstörung darstellen, die den gesamten Organismus betrifft. Vielleicht dürfen wir erwarten, dass mit der Schwere der Depression die biochemischen Batterien entweder nicht gut geladen werden können oder durch chronische Überbelastung anhaltend in einem reduzierten Zustand laufen. Hierbei ist das Gehirn aufgrund seines hohen Energiebedarfs am anfälligsten für stressbedingte Leistungseinbussen.“ Induziere Stress eine Anpassungsleistung, die Energie erfordere, stellt sich für Karabatsiakis die entscheidende Frage: „Wo kommt diese Energie her und wie können wir sie messen?“ Insbesondere im Umgang mit psychiatrischen Erkrankungen wies der Referent auf Unzulänglichkeiten des konventionellen Systems hin, was auch mit einem Risiko für Stigmatisierung der Betroffenen einhergehe: „Die Kenntnis von biologischen Grundlagen und das Verständnis für das Individuum fehlen. Durch psychischen Stress können Reaktionen auftreten, die die Funktionalität des gesamten Körpers so reduzieren, dass das Leistungsniveau nicht mehr abgerufen werden kann.“

Energieversorgung sicherstellen

Mit seinen fachlichen Ausführungen baute er eine goldene Brücke zum Vortrag von Dr. med. Kurt Mosetter zum Thema „Energiestoffwechsel im Gehirn – Strategien zur Alzheimer- und Demenzprävention“: „Morbus Alzheimer ist eine Energiekrise im Gehirn. Die frühesten Veränderungen zeigen sich, wenn das Gehirn unökonomisch viel Energie verbraucht. Zu viel chronischer Stress und zu wenig Energie – da wird es ernst. Und hier liegt die Gemeinsamkeit von Depression und Alzheimer.“ Für den studierten Humanmediziner und Heilpraktiker ist die Alzheimerdemenz Ausdruck eines Ökosystems, das aus dem Gleichgewicht geraten ist. Im Mittelpunkt steht dabei für ihn der Zuckerstoffwechsel, d.h. die Nervenzelle erhält gar keine oder zu wenig Energie – „vereinfacht gesprochen geht das Licht aus“. Worauf Alexander Karabatsiakis bereits am Beispiel von Trauma und Depression hinwies, kam auch in seinem Beitrag zum Ausdruck: „Bei der konventionellen Behandlung der Alzheimer-Krankheit wurde bislang die Energieversorgung übersehen. Bildlich gesprochen demontiert man das Auto, dabei ist der Tank leer.“ Hoffnung und Zuversicht verbreitete Mosetter, dass Therapie und Behandlung von Alzheimer in der interprofessionellen Zusammenarbeit möglich sind. Ihm zufolge sollten vorbeugende und langfristige Regulationskonzepte an mehreren Stellen der gestörten Energieversorgung ansetzen, wie z.B.:

  • Weniger schnellverdauliche Kohlenhydrate zu sich nehmen, wie z.B. Süssgetränke, Pasta, Pizza – dafür Ernährung nach Glycoplan.
  • Verschiedene gesunde Zucker (z.B. Ribose, Mannose) kennenlernen und raffinierten Zucker reduzieren.
  • Mikronährstoffmangel ausgleichen, z.B. Vitamin D, B-Vitamine, Aminosäuren.
  • Gesunde Fette supplementieren, wie z.B. Kokosöl, Omega-3.
  • Den Körper regelmässig bewegen und so präventiv den Stoffwechsel wieder ins Gleichgewicht bringen.
  • Entstressungsmassnahmen, wie z.B. Yoga, Meditation und Musik.

 

Ass. Prof. Dr. rer. nat. Alexander Karabatsiakis
Institut für Psychologie der Universität Innsbruck

Die dramatische Zunahme von nichtübertragbaren Krankheiten erfordert ein Umdenken und einen Paradigmenwechsel. In Anbetracht explodierender Fallzahlen verdeutlichte SfGU-Präsident Andreas Hefel, dass dieser Gesamtentwicklung mit der konventionellen (Tabletten-)Medizin bislang kein Einhalt geboten werden konnte: „Es erfordert Mut, auch unbequeme Wahrheiten auszusprechen und neue Wahrheiten zu schaffen. Das setzt die Bereitschaft voraus, zu diskutieren und sich eine Meinung zu bilden.“ Nach einem Bericht der WHO haben Depressionen und Angststörungen im Jahr 2020 weltweit um 25% zugenommen – vermehrt auch unter Kindern und Jugendlichen. Prognosen zur Ausbreitung von Demenz­erkrankungen erfordern ebenfalls mutiges und entschlossenes Handeln: Bis 2030 rechnet die WHO mit einer Zunahme um 40 Prozent. Wie am 16. Internationalen Bodenseekongress zu hören war, spielt ein ausgewogener Energiehaushalt eine Schlüsselrolle bei der Prävention und Therapie.

Prof. Dr. Sigrun Chrubasik-Hausmann
Universität Freiburg i. Br.

Das Maximum an Wirkung erzielen
Wie vorzeitige Mortalität wirksam verringert werden kann, erläuterte Assoc. Prof. Dr. Rodrig Marculescu (Allgemeines Krankenhaus der medizinischen Universität Wien) am Beispiel von Vitamin D. Dazu stellte er u.a. die Ergebnisse einer Forschungsarbeit vor, die zwischen 1991 und 2011 an einem grossen Patientenkollektiv mit mehr als 78’000 Patienten an der Medizinischen Universität Wien durchgeführt wurde. „Es zeigte sich, dass Patienten mit einem Vitamin D-Spiegel ≤ 10 nmol/l ein 2- bis 3-fach erhöhtes Sterberisiko aufwiesen. Hingegen war ein Vitamin D-Spiegel ≥ 90 nml/l mit einer um 40% verminderten Gesamtmortalität assoziiert. Was den Einfluss des Alters anbelangt, konnte beobachtet werden, dass die Erhöhung der Sterblichkeit bei Patienten mit Vitamin D-
Mangel im jüngeren und mittleren Lebensalter stärker ausgeprägt war, als in der Gruppe der 60- bis 75-Jährigen“, so der Mediziner. Während das Thema „Vitamin D“ mit oft widersprüchlichen Studienergebnissen polarisiere, herrscht zumindest in einem Punkt Klarheit: „Vitamin D senkt das Risiko, an einer potenziell lebensbedrohlichen Erkrankung zu sterben. Das ist mittlerweile auf jedem Evidenzlevel bewiesen.“ Was die Positionierung von Vitamin D anbelangt, ist für Prof. Dr. habil. Ulrich Amon „in den vergangenen Jahrzehnten vieles schiefgelaufen“. Er sprach sich dafür aus, „die Effektivität von Vitamin D zu nutzen“ und schloss sich der Grundbotschaft von Andreas Hefel an: „Wir wollen das Maximum an Wirkung von Vitamin D erreichen. Deshalb: Messen – Machen – Messen.“ Auf die antivirale Wirkung von Polyphenolen ging Prof. Dr. med. Sigrun Chrubasik (Universität Freiburg i.Br.) am Beispiel von Knoblauch, Curcumin, Piperin und Schwarzkümmel ein. Diese von ihr vorgestellten sekundären Pflanzenstoffe werden in der 14. Auflage des Mikronährstoff-Lexikons der SfGU ebenfalls beschrieben („Die wunderbare Welt der Mikronährstoffe“), das die Kongress-Teilnehmer erhielten. Neben neuesten Erkenntnissen im Bereich der Mikronährstoffmedizin nahmen sie auch noch eine persönliche Botschaft von Ulrich Amon mit auf den Heimweg: „Achten wir genau so auf uns, wie wir auf unsere Patienten achten. Wir können uns nur dann um komplexe Themen kümmern, die uns viel Kraft kosten, wenn wir fit und leistungsfähig bleiben!“

Jürgen Kupferschmid, Leiter Öffentlichkeitsarbeit der SfGU

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